Perlentoechter - Roman by Jane Corry

Perlentoechter - Roman by Jane Corry

Autor:Jane Corry
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Limes
veröffentlicht: 2012-06-29T00:00:00+00:00


Helen

1942–1980

25

Später, sehr viel später, wenn Helen sich gestattete, an den Tag zu denken, an dem ihre Mutter starb, kam ihr zuerst die V1-Rakete in den Sinn. In ihrer damaligen Vorstellung war beides miteinander verbunden. Tatsächlich hatte sie eine Zeit lang sogar geglaubt, dass es womöglich ein Versehen gab. Vielleicht war Mummy gar nicht an dem seltsamen Geschwür im Kopf gestorben, das sie ständig müde machte, sodass sie sich immer auf die Couch legen musste, wenn sie von Mr Lewis zurückkam. Vielleicht war sie von derselben Flugbombe mit dem merkwürdigen, knatternden Geräusch getötet worden, die beinahe Frank und sie getötet hätte.

Sie waren an jenem Morgen wie immer auf dem Weg zur Schule. Edna hatte ihnen zum Abschied wie immer die Rucksäcke umgehängt, wobei Helen auf ihrem Rücken auch die verhassten Algebrabücher trug. Auf Borneo musste sie kein Algebra üben, klagte Helen oft, was ihr kein Wohlwollen einbrachte, weder von Edna noch von der Schuldirektorin. Es kam Helen und Frank gar nicht so seltsam vor, dass ihre Mutter nicht mehr da war, schließlich waren sie es gewohnt, dass sie unter der Woche auswärts arbeitete. Kein Mensch hatte etwas davon gesagt, dass sie krank war. Später, als Helen selbst erwachsen war, versuchte sie sich zu erinnern, ob ihre Mutter damals auffallend dünn oder blass gewirkt hatte oder ob es Anzeichen gegeben hatte, dass etwas nicht stimmte, aber ihr fiel nichts ein.

Ihren Schulweg kannten sie nach über einem Jahr sehr gut. Außerdem war Helen schon vierzehn und durchaus in der Lage, sich alleine zurechtzufinden, wie sie Edna erklärte. Es war in Momenten wie diesen, wenn Edna losjammerte, dass Helen sich doch immer eine Kinderfrau wünschte statt einer Haushälterin.

»Wir kommen zu spät«, sagte sie und zog Frank am Kragen, weil er stehenblieb, um einen Schmetterling zu beobachten, der auf einer Bruchsteinmauer saß. Es war eine hübsche Mauer, die von kleinen violetten Blüten überquoll, die Blaukissen genannt wurden, wie Helen einige Jahre später lernte. Danach bekam das Wort »Blaukissen« irgendwie die gleiche Bedeutung wie Flugbomben und Geschwüre im Kopf.

Ihr kleiner Bruder zielte mit dem Fuß auf ihr Schienbein. »Lass mich.«

Helen lachte. Sie war, wie Mummy immer sagte, einer der wenigen Menschen auf dieser Erde, der mit Frank umgehen konnte. »Versuch doch, mich aufzuhalten. Na los, fang mich!«

Sie rannte los, während der Rucksack gegen ihre Rippen schlug, und hoffte, dass Frank ihr folgte. Es gehörte zu ihren Tricks, ein Wettrennen mit ihm zu machen, da er sich dann beeilte, ohne dass es ihm bewusst war. Mummy und sie waren ständig damit beschäftigt, Frank Beine zu machen. Was für ein Herumtrödler!

Und dann hörte sie es. Zuerst dachte sie, ihr Bruder würde quengeln. Das machte er auch immer, genau wie herumbummeln. Aber dann wurde Helen klar, dass dieses Geräusch viel schriller klang. Es war die Art von Geräusch, bei dem es einem eiskalt über den Rücken lief, wie wenn die Lehrerin mit den Fingernägeln über die Tafel fuhr. Und dann herrschte Stille.

»Wenn du ein lautes Knattern hörst und dann nichts mehr, musst du sofort in Deckung gehen.«

Wie oft hatte ihre Mutter ihr das gesagt? »Warum?«, hatte Helen gefragt.



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